Quilt 18/2008
Quilt-Artikel: "Ich bin HIV-positiv"
"Angst vor den Kranken" titelte die Süddeutsche Zeitung am 6. August dieses Jahres und machte anlässlich der Welt-Aids-Konferenz in Mexiko-Stadt auf eine verdrängte Problematik in Deutschland aufmerksam.
Zwar habe für viele Deutsche das Virus seine Bedrohlichkeit verloren und sie wüssten, wie sie sich vor dem Virus schützen und dass HIV-Infizierte dank der Medikamente auch alt werden können. Daraus aber zu folgern, Aids sei nur ein Thema außerhalb der Landesgrenzen, wäre ein Trugschluss.
Die Redakteurin Nina von Hardenberg schreibt: "Die Menschen sterben zwar nicht mehr so schnell an HIV. Für viele aber bedeutet die Diagnose den sozialen Tod. Auch in Deutschland ist ein Leben mit HIV ein Leben mit Diskriminierung. Das gilt vor allem für den Arbeitsmarkt." Bei vielen (nicht allen!) HIV-Infizierten gebe es körperliche Einschränkungen und erschwerend käme hinzu, dass die Krankheit immer noch mit Tabus behaftet und mit Ängsten besetzt sei. Hardenberg fordert, dass HIV-Infizierte und Aids-Kranke "endlich wie andere chronisch Kranke behandelt werden, die Anteilnahme und Hilfe verdienen. Es ist an der Zeit, dass nicht nur die Angst vor der Krankheit ihren irrationalen Zug verliert, sondern auch die Angst vor den Kranken abnimmt".
Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden fünf Menschen porträtiert, die unterschiedlich lange mit dem Virus leben und alle der Münchner Aids- Hilfe verbunden sind - sei es als MitarbeiterInnen, Ehrenamtliche oder indem sie die Gruppenangebote für HIV-Positive (Sport, Freizeit, Stammtisch) nutzen. Nicht alle sind an ihrem Arbeitsplatz als "positiv geoutet".
Engelbert (49)
arbeitet seit neun Jahren beratend in der Therapie-Hotline der Münchner Aids-Hilfe und ist zudem für mehrere Betroffenengruppen zuständig. Seit 22 Jahren ist Engelbert HIV-positiv getestet und nimmt seit 12 Jahren Medikamente.
Engelbert lebt fast sein halbes Leben lang mit dem Virus. 1986 traf ihn die Diagnose "positiv". Da war er 26, studierte in Freising und hatte erst kurz zuvor seine schwules Coming-out: "Es war eine unglaublich turbulente Zeit. Ich kam mit 25 als Hascherl vom Land in die Großstadt. Das hat mich überwältigt. Ich habe hier mein Schwulsein entdeckt, was nicht einfach war.
Das Coming-out hat sich über ein Jahr hingezogen." Als schließlich klar war, dass er schwul ist, kam für ihn auch das "sexuelle Befreiungsgefühl".
Engelbert betont, relativ konsequent Safer Sex gemacht zu haben: "Es war ja damals auch schon in den Medien."
Doch dann wurde er "immer lockerer" im Umgang mit Sex. Auch wenn er ahnt, bei wem er sich angesteckt hat, gibt er niemandem die Schuld. "Das ist auf meiner Suche nach Freiheit und mir selbst einfach passiert." Als persönlich Betroffener und beruflicher Berater weiß er genau, wovon er spricht: "Wenn man probiert, sich fallen zu lassen, kann das einfach auch passieren." Auch in den heutigen aufgeklärten Zeiten sei das immer wieder mit ein Grund für eine HIV-Infektion.
"Für mich ist eine Welt zusammengebrochen", erinnert er sich. "Damals war es viel deprimierender als heutzutage. Mein ganzes Umfeld war von der Krankheit betroffen." Die meisten hatten keine Chance. Jeder zweite aus Engelberts Freundeskreis ist gestorben. Engelbert war zum Zeitpunkt seiner HIV-Diagnose in keiner Zweierbeziehung: "Relativ bald bin ich meine erste schwule Beziehung eingegangen. Meine ersten drei Beziehungspartner waren alle positiv." Über Jahre hinweg war er regelmäßig auf Beerdigungen. Und auch ihn hat der HI-Virus mit voller Wucht gepackt. Sein Studium hat er zunächst schleifen lassen. Schließlich fehlte ihm ganz die Kraft, um weiterzustudieren. 15 Kilo hat er damals abgenommen.
"Ich war richtig krank, konnte nicht mehr alleine gehen", erzählt er. In jener lebensbedrohlichen Zeit, so meint er ironisch, "war ich Inventar in der Arztpraxis." Aber er hatte auch seine eigenen Vorstellungen, mit dem Virus umzugehen. Das helfende Medikament AZT wollte er lange nicht in seinem Körper haben: "An die HIV-Medizin habe ich nicht geglaubt. Wer mich heute kennt, kann sich das gar nicht so richtig vorstellen", erklärt er schmunzelnd.
Er musste sich zu den Medikamenten überreden lassen. An das Datum kann er sich noch genau erinnern: "Am 2. Juli 1996 habe ich begonnen, eine Kombinationstherapie mit Protease-Hemmern zu schlucken. 1996 war auch der Durchbruch in der HIV-Therapie." Als Engelbert schließlich medizinisch versorgt wurde und sich an die Münchner Aids-Hilfe wandte, ging es ihm nach einem halben Jahr besser. Bis er wieder an Gewicht zugelegt hatte und arbeitsfähig wurde, sollte es aber noch viel länger dauern. Heute ist er voll berufstätig in der Münchner Aids-Hilfe, "als bekanntester Berufspositiver Deutschlands", wie er grinsend anfügt.
Nicht alle HIV-Positiven können so selbstverständlich und offensiv mit ihrer Infektion umgehen wie Engelbert - auch wenn er es manchmal selber in seinem Privatleben leid ist. "Immer musst du aufklären und dich rechtfertigen. Wenn du dein HIV mitteilst, bist du in der Pflicht, die anderen aufzufangen. Du musst die Kraft haben, die anderen zu stützen. Bei jeder anderen Krankheit wirst du selber aufgefangen." Er beklagt in den Reaktionen die diffuse Mischung aus Nicht-Wissen und Angst vor Ansteckung. Gründe, warum HIV-Positive nach einem Outing in der Arbeit gemobbt werden. Aber er weiß auch von positiven Erfahrungen zu berichten, unabhängig vom Bildungsniveau. "Die Leute sind besser als ihr Ruf. Oft packen es diejenigen am besten, denen ich es gar nicht zugetraut habe." Engelbert hat das Glück, dass seine Freunde, Familie - und sein gesamtes Umfeld - in den letzten 22 Jahren "eher positiv reagiert" haben.
Offene Ablehnung ist ihm nur ein einziges Mal entgegengeschlagen - von seiner Ex-Freundin, einer Sozialarbeiterin. Er pflegt einen selbstverständlichen und verantwortungsvollen Umgang mit Sex. "Ich benutze immer Kondome, mache aber meine HIV-Infektion nicht automatisch bekannt.
Aber wenn einer nachfragt, sage ich Ja." Da kann es ihm schon mal passieren, dass er mit seiner Eroberung nach dem Diskothekenbesuch erst mal 15 Minuten über HIV diskutieren muss, statt gleich zur Sache zu kommen.
Engelbert trägt es mit Fassung: "Da muss man durch."
Der Welt-Aids-Tag ist für ihn ein wichtiger Tag. Die Teilnahme am Candle- Light-Walk ist obligatorisch. Für ihn, der von seinen Eltern in Straubing sehr katholisch erzogen wurde, ist das Gedenken an die Verstorbenen am 1. Dezember nahezu heilig. Engelbert nennt es gar "sein persönliches Allerheiligen". Das gesteigerte Medieninteresse um den Welt-Aids-Tag hält er für wichtig. "Denn nur so kann man die Massen erreichen." Ein wichtiger Schritt auf dem langen Weg hin zur Normalität.
Klaus (43)
arbeitet als Goldschmied, Bildhauer, Maler. Seit 16 Jahren ist Klaus positiv getestet und nimmt seit 11 Jahren Medikamente.
HIV und Aids waren lange vor seiner eigenen Erkrankung ummittelbare Begleiter von Klaus. Schon in den achtziger Jahren engagierte er sich im Freundeskreis, weil immer wieder Freunde krank wurden und verstorben sind. "Ich habe Sterbebegleitung gemacht." Als er selbst 1992 positiv getestet wurde, war das zwar ein Schock für ihn, "aber nicht so, dass es mich umgehauen hätte". Er war damals in keiner festen Beziehung, hatte aber gute Freunde, die ihm in dieser schwierigen Zeit beistanden. Er weiß, bei wem er sich angesteckt hat, macht demjenigen aber im Nachhinein keine Vorwürfe. "Da muss ich mich an der eigenen Nase fassen. Ich habe nicht aufgepasst, obwohl mein Gegenüber seine Infektion nicht verheimlicht hat."
Seine Eltern reagierten auf seine Infektion helfend, nicht ablehnend. Und der Vater erfuhr gleich "nebenbei" vom Schwulsein seines Sohnes. Klaus wurde zu jener Zeit an der Berufsschule für Goldschmiede ausgebildet. Den Lehrern und Mitschülern teilte er seine HIV-Infektion ebenfalls mit. Und er betont rückblickend: "Ich habe keine schlechten Erfahrungen gemacht."
Beruflich zog er Konsequenzen und entschied sich für eine Karriere als freier Künstler. Er kehrte München den Rücken und zog für eine ganze Weile aufs Land. Die ersten Jahre hat er keine Tabletten genommen. Es ging ihm gut. 1997 begann er mit der Kombinationstherapie. Davor hatte er, wie so viele damals, alternative Heilmittel wie etwa Johanneskraut ausprobiert.
Seit zehn Jahren lebt er wieder in der Stadt. Der Candle-Light-Walk bedeutet ihm mehr als der Christopher Street Day. Ihm ist es wichtig, gemeinsam der Verstorbenen zu gedenken und Kerzen anzuzünden. Mal eine andere Route zu gehen und eine andere als die evangelische St.-Lukas-Kirche für die anschließende Gedenkfeier würde er sich wünschen: "Die Katholiken müssten auch mal ran." Er ist heute mit sich im Reinen. Seine HIV-Erkrankung hat ihn gelehrt, im Hier und Jetzt zu leben, jeden Tag zu genießen - und den Tod im Hinterkopf zu behalten.
Sepp (68)
ist Rentner und als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Münchner Aids- Hilfe tätig. Seit fünf Jahren ist Sepp positiv getestet und nimmt seit drei JahrenMedikamente.
Sepp war zum Zeitpunkt seiner Diagnose mit Ralf zusammen. "Es hat mich zwar nicht aus der Bahn geworfen, aber ich habe schon mit meinem Schicksal gehadert und mich gefragt: Muss ich das jetzt auch noch mitmachen? Da war ich froh darum, dass ich schon so alt bin." Als sein Freund krank wurde und von seiner HIV-Infektion erfuhr, hat auch Sepp sich testen lassen. Das war 2003. Kurz vor seinem positiven Testergebnis war er bei einem Info-Abend für Ehrenamtliche bei der Münchner Aids-Hilfe. Sein positives Testergebnis bekräftigte ihn in seinem Entschluss, sich zu engagieren. "So bin ich relativ schnell mit dem Ergebnis klar gekommen."
Er ist froh, in diesem Netzwerk aufgefangen worden zu sein. Die Münchner Aids-Hilfe war sofort für ihn da, dort fand er Unterstützung und Zuspruch. "Alleine schafft das keiner." Sepp hatte die Münchner Aids-Hilfe - und er hatte die Beziehung zu Ralf. Zwischen ihren beiden positiven Testergebnissen lagen nur wenige Wochen. "Wir konnten uns gemeinsam damit auseinandersetzen." Und keiner hat dem anderen die Schuld zugewiesen. "Es ist müßig, darüber nachzudenken", sagt Sepp. "Tatsache ist, die Infektion ist da. Und damit muss man fertig werden."
Nach zwei Jahren fing er zunächst widerwillig an, Tabletten zu nehmen. Lange hatte er sich dagegen gesträubt und sich einer Illusion hingegeben. "Ich hatte die Hoffnung, ohne Medikamente leben zu können." Seither geht es ihm gesundheitlich immer besser. Auch wenn es ihn nach wie vor Mühe kostet, die Medikamente immer nach genauem Zeitplan einzunehmen. Mit dem Sterben setzt er sich schon aufgrund seines Alters "automatisch" auseinander: "Ich lebe bewusst und freue mich jeden Tag meines Lebens."
Und Sepp erzählt schmunzelnd von seinem Arzt, der zu ihm gesagt hat: "Sie werden sicher sterben. Aber sicher nicht an den Folgen von HIV." Der Welt-Aids-Tag ist für ihn sehr wichtig, weil das Thema Aids zumindest ein Mal im Jahr massiv ins Bewusstsein der Bevölkerung dringt. Ihm ist es ein Anliegen, die Botschaft zu vermitteln: Aids gibt es, es muss aber keine Katastrophe sein. Denn es gibt die Münchner Aids-Hilfe und andere Aids-Hilfen. "Die machen eine tolle Arbeit und das ist unterstützenswert." Auch deshalb ist Sepp mit seinen 68 Jahren ein unermüdlicher Aktivposten der Münchner Aids-Hilfe .
Gabi (52)
arbeitet in Vollzeit und ist ehrenamtliche Mitarbeiterin der Münchner Aids-Hilfe. Sie ist seit fünf Jahren positiv getestet und nimmt seitdem Medikamente.
2003 wurde Gabi krank. Niemand konnte ihr so richtig helfen, selbst die Ärzte waren ratlos. Eines Tages ging es ihr besonders schlecht. Vom Notarzt wurde sie sofort ins Krankenhaus gebracht - und ohne Befund wieder entlassen. Nach weiteren Untersuchungen, die zu nichts führten, stellte ihr Hausarzt die entscheidende Frage: Ob sie sich denn schon auf HIV habe testen lassen? Gabi hatte gegen einen erneuten Test nichts einzuwenden. Drei Jahre zuvor war sie schon einmal negativ getestet worden: "Ich war mir sicher, dass ich auch diesmal nichts habe." Das positive Testergebnis brachte sie zur Verzweiflung. "Ich war nicht darauf vorbereitet.
Bei mir im Umfeld gab es keine HIV-Positiven. Ich bin in ein großes Loch gefallen." In Gabi stiegen die schockierenden Bilder von Aids-Kranken aus den achtziger Jahren hoch, "als die Menschen gestorben sind wie die Fliegen", erzählt sie. "Ich habe gedacht, so werde ich auch sterben." Ihr Hausarzt konnte sie zum Glück wieder beruhigen - und überwies sie in eine Klinik. Das war ihr erster Rettungsanker. "Die Ärzte dort haben mich total gut aufgefangen und wieder aufgebaut." So langsam begriff sie, dass ihr Leben weitergeht. Sie schöpfte wieder Hoffnung und fasste sogleich wichtige Entschlüsse: weiterzuarbeiten und "auf keinen Fall krank sein".
Mit der Kombinationstherapie fing sie sofort an, weil ihre Helferzellen weit unten waren. Aber nicht nur deshalb. "Ich hatte das Gefühl, ich tue etwas für mich, und dann wird das besser." Über ihre Sorgen sprach sie nur mit ihren Ärzten. "Ich habe meine Infektion lange Zeit für mich behalten, hatte Angst vor den Reaktionen."
Ein halbes Jahr nach ihrem Testergebnis nahm ihr Leben aufgrund eines Aushangs in der Klinik eine weitere entscheidende Wendung. Gabi erfuhr von der Yogagruppe der Münchner Aids-Hilfe und beschloss hinzugehen, auch wenn sie zunächst Vorbehalte gegen die geballte Präsenz schwuler Männer hegte. "Was soll ich da als Hetera?" Ihre Zweifel wurden schnell zerstreut. "Ich habe mich von Anfang an aufgenommen und gestärkt gefühlt." Gabi konnte Zuversicht und auch Selbstbewusstsein tanken.
Allmählich wagte sie es, sich zu ihrer HIV-Infektion zu bekennen. "Heute wissen ganz viele Freunde davon." Die Reaktionen waren ermutigend, sie hat nie offene Ablehnung erlebt. Gabi ist froh, dass sie in ihrem Freundeskreis jetzt ganz offen darüber reden kann. Ganz anders verhält es sich an ihrem Arbeitsplatz. Dort hat sie bis heute nichts von ihrer HIV-Erkrankung erzählt. Zwar wissen die Kolleginnen und Kollegen, dass sie sich für die Münchner Aids-Hilfe und in diversen anderen HIV-Projekten engagiert, "aber nicht mehr". Und keiner fragt nach, was Gabi immer wieder erstaunt. Sie hadert mit diesem Zustand. "Manchmal denke ich mir: Warum sagst du es eigentlich nicht?" Gabi kann nicht alle ihrer Kolleginnen und Kollegen einschätzen. Sie hat Angst vor blöden, negativen Reaktionen. Und sie scheut den aufklärerischen Aufwand, sich als Positive zu offenbaren. "Ich müsste dann den Leuten das ganze Wissen um diese Krankheit beibringen und erklären, dass es jeden erwischen kann - auch ohne ausschweifendes Sexualleben."
Gleichwohl würde sie die direkte Frage danach mit Ja beantworten. Das würde sie nicht tun, wenn sie noch große Karrierepläne hätte. "Weil jeder denkt, die wird ja sowieso krank und stirbt in den nächsten drei Jahren."
Gabi ist allerdings überzeugt davon, dass dies nicht allein mit HIV zusammenhängt. "Jedes Krankheitsbekenntnis ist ein Karrierehemmnis."
Dennoch bleibt gerade das Thema HIV und Aids immer noch mit einem großen Makel behaftet. "Es ist halt immer noch eine Schmuddelkrankheit."
Gabi hat heute eine entspannte Sichtweise auf ihre Infektion. "Für mich ist es eine chronische Krankheit. Der eine hat Bluthochdruck, die andere hat HIV. Punkt." Ihr Verhältnis zum Tod hat sich seit der Diagnose verändert. "Mir wurde klar, ich bin sterblich. Möglicherweise sehr schnell, vielleicht aber auch nicht." Sie hat ihr Leben verändert, andere Prioritäten gesetzt. Sie nimmt sich heute wichtiger. "Den Tod kann ich viel besser akzeptieren als früher. Man weiß, man muss sterben. Und man hofft, dass man lebt."
Ralf (45)
arbeitet in Vollzeit und ist seit fünf Jahren positiv gestestet, seitdem nimmt er Medikamente.
Ralf ist 2003 "ohne erkennbaren Grund" krank geworden und hat zunächst einen monatelangen Ärztemarathon hinter sich gebracht. Das Damoklesschwert HIV und Aids hat er zwar im Hinterkopf gehabt, "aber das wollte ich gar nicht wahrhaben". Als sich sein Zustand auch nach verschiedenen Behandlungen nicht verbessert, lässt er schließlich doch den HIVTest machen. "Das positive Testergebnis hat mich sehr aus der Bahn geworfen." Ralf trieb dabei weniger die Angst vor einer tödlich verlaufenden Krankheit um. "Über den medizinischen Fortschritt war ich ziemlich gut informiert." Was ihn vielmehr verzweifeln ließ, war die Angst vor dem sozialen Absturz aus einem bislang erfolgreichen Leben, in dem es auf der Karriereleiter stetig bergauf ging. Nun sah er eine Zukunft vor sich, in der er krank und arbeitslos war. Seinem Arzt erzählte er, was er jetzt alles ändern müsse. Dieser Arzt hörte zunächst geduldig zu und formulierte dann einen überraschenden Vorschlag. "Wissen Sie, was Sie jetzt tun?"
Ralf schaute den Arzt erwartungsvoll an. Die einfache Antwort des Arztes lautete: "Nichts!" Sie traf Ralf wie einen Donnerschlag. Er konnte sich sogleich aus dem Abwärtsstrudel seiner Sorgen und Ängste befreien und begann sofort, die Medikamente einzunehmen. Seine Werte waren schlecht, und es ging ihm nicht gut. Vorbehalte gegen die Medikamente hatte er nicht. "Ich habe gedacht, das kann nur besser werden."
Als er schnell wieder zu Kräften kam, war er richtig euphorisch. Kurz darauf nahm er am "Positive Perspektiven"-Wochenende der Münchner Aids- Hilfe teil. Dort hatte er aber sein "nächstes Frusterlebnis", als ihm vermittelt wurde, wie überlebensnotwendig eine genaue Tabletteneinnahme ist.
"Ich habe eine Zeitlang gebraucht, um das zu verarbeiten." Damals war er mit Sepp zusammen, der ebenfalls krank wurde und wenige Wochen nach Ralf von seiner HIV-Infektion erfuhr. Ralf hat sich Vorwürfe gemacht, schuld an Sepps Infektion zu sein. "Das war für mich eine ziemliche Belastung", erzählt er. "Sepp hat aber toll reagiert und eigentlich mich aufgefangen." Es gab keine Vorwürfe von seiner Seite. Die beiden waren das Risiko ganz bewusst eingegangen. Dass die Beziehung dann einige Zeit später doch nach 15 Jahren auseinander ging, "hatte mit HIV überhaupt nichts zu tun".
An seinem Arbeitsplatz ist Ralf zwar als Schwuler geoutet, aber nicht als HIV-Postiver. "In der Branche, in der ich tätig bin, wäre ich abgeschrieben und müsste aufhören", sagt er. Er beklagt Unkenntnis und Vorurteile. "Das Stigma HIV ist enorm groß, die Leute wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen." Er würde sich eine andere Situation wünschen, befürchtet aber negative Reaktionen. "HIV wird immer noch anders behandelt als andere tödlich verlaufende Krankheiten." Und er erzählt die Geschichte eines krebskranken Kollegen, dem die Firma unter viel Anteilnahme den Wiedereinstieg ins Berufsleben ermöglicht hat. "Der Krebskranke erhält das Mitleid der Firma, der HIV-Kranke nicht." Ralf ist sich sicher, dass als Reaktion kommen würde: "Schau die Sau an". Er beklagt das Schmuddelimage, dass dieser Krankheit nach wie vor anhaftet. "Und immer noch denken die Leute, dass man gleich stirbt." Ralf hat sich mit dieser Situation abgefunden, ohne darunter zu leiden. Ihm ist es viel wichtiger, an seinem Arbeitsplatz offen mit seinem Schwulsein umgehen zu können. "Der Virus in mir hat keinen weiteren Einfluss auf mein Leben. Und deshalb ist er auch nicht so wichtig." Nach fünf Jahren mit HIV freut er sich über ein "relativ normales Leben". Aus seinen Stimmungslöchern ist er nach und nach herausgekommen. Seine HIV-Infektion ist für ihn meist ganz weit weg. "Ein Mal am Tag nehme ich meine Tabletten - und ansonsten denke ich nie daran. Nicht mal, wenn ich beim Positiven Stammtisch sitze.
Irgendwann wird eine Katastrophe zur Normalität." Am Welt-Aids-Tag sind ihm das Sichtbarmachen und die Forderung nach Solidarität wichtig. "Man bekommt sie ja nicht automatisch." Deshalb ist er auch immer dabei - und bekommt natürlich auch befremdliche Reaktionen am Straßenrand mit. "Es ist schon bizarr. Ein Christopher Street Day ist nicht mehr exotisch, ein Candle-Light-Walk dagegen schon."
(Erschienen in Quilt 18/2008, Das Magazin der Münchner Aids-Hilfe)