Jun Miyake: Stolen from Strangers
VÖ 2. Oktober 2008 (yellowbird_enja/Soulfood)
Pop-CD des Monats-Audio 11/2008, Ralf Dombrowski
Ralf Dombrowski in jazzthing.de 75/2008:
"Alle reden von Migration. Jun Miyake macht Kunst daraus. Oder zumindest etwas, das in diese Richtung geht. Seine Musik ist eine Mischung aus Kitsch und Klangvisionen, Design und Distanz, in eigenartiger Schönheit abgekoppelt vom laufenden Diskurs des Glokalistischen und zugleich dessen klare und individualistische Einlösung. Miyake ist ein famoser Camoufleur, eine Art Modeschneider für Musikgewänder, und nennt seine im Oktober erscheinende, mit Kollegen wie Arto Lindsay und Vinicius Cantuaria zusammen entwickelte Kollektion "Stolen From Strangers".
"Am liebsten würde ich meinen Körper verändern. Ich brauche Federn und Flügel, um herumfliegen zu können, wie ich es in meinen Träumen manchmal tue". Ein japanischer Ikarus, und doch wieder nicht. Spricht man mit Jun Miyake, wirkt er sehr konkret und höflich, formuliert betont korrekt, ein elegant gewandeter Profi der Selbstdarstellung, der seine Umgebung unter Kontrolle hat. Hie und da erzählt er von Träumen, aber sie scheinen weitaus wirklicher zu sein als bei vielen seiner Kollegen. Kein Wunder eigentlich, denn Miyake ist kein zielloser Romantiker. Sein Geld verdient er mit Musik für Werbung und Filme, mit Theaterprojekten etwa an der Seite von Robert Wilson und der Tanzkönigin Pina Bausch. Zu seinen Auftraggebern gehören Oliver Stone und Hal Willner, Sony und Coca Cola, an seiner Seite arbeiten Beth Gibbons ebenso wie David Byrne oder Grace Jones. Er ist ein Meister der Inszenierung, von den Möbeln der Wohnung in der Wahlheimat Paris bis hin zu den Fotos der Covergestaltung, für die der Mode-Guru Jean-Paul Goude zur Kamera griff. Zufall im herkömmlichen Sinne gibt es für ihn nicht, Chaos ist für ihn erklärtermaßen ein Prinzip der Gestaltung.
Umso mehr verwundern seine musikalischen Welten, denn sie sind Hybriden ohne klar konturierte ästhetische und kulturelle Grenzen. "Ich habe kein Rezept, nach dem ich meine musikalischen Landschaften zusammensetze. Manchmal fliegt mir etwas einfach so zu, ein anderes Mal bastle ich lang an meinem Computer," kündet Miyake von seinen Soundforschungen und erzählt weiter von Motivationen, die ihn in die Welt der kalkulierten Experimente lockten. "Vor etwa 15 Jahren kam mit die Idee, mein Heimatland zu verlassen, um ein 'perfect stranger' zu werden, das heißt wirklich ein Fremder zu sein. Ich war zu der Zeit neben meiner Musik zu sehr in der Werbebranche involviert. Da ich so häufig an exotischen Projekten beteiligt war, waren auch die entlegene geographische Lage Japans und die kulturelle Enge des Landes Gründe, warum ich ins Ausland gezogen bin. Aber ich habe 15 Jahre gebraucht, meine Ideen umzusetzen. 2005 bin ich dann nach Paris gezogen. Hier sind wir zumindest alle Fremde."
Und zugleich irgendwie zu Hause. Denn letztlich ist die geographische Heimat inzwischen ebenso Illusion wie die Vorstellung eines Weltdorfs voll gleichberechtigter Individuen. Mehr als jemals zuvor versuchen Menschen in der virtuellen Transformation die realen Grenzen fallen zu lassen und ein Skeptiker wie Jun Miyake ist da nur ein wenig konsequenter als die meisten anderen. Er baut sich sein Reich der Klänge aus dem, was für ihn emotional und intellektuell plausibel erscheint, und so gibt es auf "Stolen From Strangers", dem ironisch-ernsten Titel folgend, alles Mögliche, was dem Künstler gefällt.
Zuweilen schwingt seine jazzgeprägte Jugend nach, in Form eines dezenten Swings oder als sublimierte Bossa Nova. Dazu wird Chanson und Orchestrales, ein wenig Blasmusik, etwas Orientaleskes und eine Prise nordische Tristesse geboten, hie mal einen Chor und da mal eine Ahnung von Chet Baker. Die eigene Berklee-geschulte Trompete setzt er sparsam ein, als Farbe ebenso wie die übrigen Motiv- und Stilbausteine im Miyake-Klangkulturenmosaik. Lieber lässt er Gäste wie Arto Lindsay, Vinicius Cantuaria, Lisa Papineau oder Arthur H. wirken, gibt den kosmisch bulgarischen Stimmen oder Dhafer Youssef ihren Platz, anstatt sich selbst zu produzieren. Das ist letztlich auch die eigentliche Kunst an "Stolen From Strangers". Jun Miyake geht es um das Konzept des Hybriden, das sich im Wechselspiel der individuellen Eindrücke, Wertungen und der Persönlichkeiten seiner zum Teil langjährigen Wegbegleiter -- Arto Lindsay und den Pianisten Peter Scherer kennt er bereits seit den späten Achtzigern -- zu einem Konzentrat der Höroptionen verdichtet. "Erotisch, exotisch, unschuldig sind für mich sehr motivierende Begriffe. Sie faszinieren mich immer. Vielleicht sollte ich 'road' noch hinzufügen, da ich dieses Album als ein 'audio road movie' verstehe. All die großartigen Künstler, die dabei mitmachten, es sind allesamt Freunde. Sie leben in anderen Ländern oder ziehen um den ganzen Erdball. Ihr Leben und ihre Musik sind wie ein Kaleidoskop, das sich in meiner Musik wieder spiegelt. Es ist ein fantastisches Gefühl, solche Freunde zu haben" – fremde Freunde und Netzwerker in einem ästhetischen Spiel, das Identitäten klangräumlich entkoppelt. Da fliegt doch ein wenig Ikarus in den Träumen mit."